Dieser Beitrag erschien zuerst in der Berliner Morgenpost vom 10.Juli 2015 und online auf morgenpost.de

In der Spree-WG leben 21 Bewohner in Ein- bis Dreizimmerwohnungen, teilen sich aber einen Gemeinschaftsbereich: „CoHousing“ in Berlin.

Axel Schmidt steht auf der Dachterrasse und blickt auf die Spree. Gerade eben hat der Fotograf noch in der Werkstatt im Erdgeschoss Bretter zu Blumenkästen zusammengeschraubt. Auf den Beeten des Flachdachs soll Gemüse für alle Bewohner wachsen. Er schaut in das angrenzende, verglaste Loft. Dort unterbricht ein Mann sein Gitarrenspiel und winkt ihm zu. „Hier kennt jeder jeden. Man fühlt sich ein bisschen wie auf einem Dorf – nur sind wir mitten in Berlin.“

Zwei Stockwerke tiefer versammelt sich die Spree-WG zum Abendessen in der Gemeinschaftsküche. Es gibt Hirse mit gebackenem Gemüse. Dazu Wasser aus Karaffen, keinen Alkohol. Am langen Holztisch, der mit frischen Blumen geschmückt ist, sitzt eine bunt gemischte große Familie, wie sich die Runde selbst nennt. Zehn von 21 Bewohnern sind es heute. Sie haben sich am Vortag auf einer Tafel am Kücheneingang eingetragen. Jeden Abend kocht einer, der gerade Zeit und Lust hat. Die Einkäufe werden aus der Gemeinschaftskasse bezahlt.

Nachfrage von Zuzüglern hoch

Die Spree-WG ist keine normale Wohngemeinschaft, sondern ein „CoHousing-Projekt“. In dieser aus Dänemark stammenden Wohnform gruppieren sich private Ein- bis Dreizimmerwohnungen um Gemeinschaftsbereiche wie Küche, Wohnzimmer und Terrasse. Die Spree-WG ist Teil des Spreefeld-Projekts: drei achtgeschossige Wohnhäuser neben dem alten „Kater Holzig“-Club an der Köpenicker Straße in Friedrichshain. Es wurde von einer Genossenschaft und drei Architekturbüros selbst geplant, finanziert und gebaut. Seit einem Jahr sind die Häuser bewohnt, die Nachfrage von potenziellen Zuzüglern ist hoch.

Valerie* ist eine der zwei älteren Single-Frauen, die an diesem Tag am Tisch sitzen. Sie wohnt zum ersten Mal seit ihrer Studentenzeit wieder in einer WG. Bevor sie hier einzog, hat sie allein gelebt. „Wenn man so wie ich mit fast 50 noch alleine wohnt, was soll sich, außer zur Arbeit zu gehen, noch viel tun im Leben?“, fragt sie. „Ich will nicht 60, 70 werden und nur arbeiten. Ich will Anteil am Leben anderer nehmen, von ihnen lernen und mich einbringen.“ Dass die Spree-WG an eine Kommune erinnert, weist Valerie zurück. „Hier muss nicht alles geteilt werden. Im Gegenteil. Jeder kann sich in seinen Wohnbereich zurückziehen und das einbringen, was er will, ohne moralisch unter Druck gesetzt zu werden.“

Sie erklärt, dass niemand ermahnt wird, wenn er längere Zeit mal nicht für alle gekocht hat. Die Gemeinschaft ist nur ein Angebot, niemand wird zu etwas gezwungen. „Unsere Gruppe ist sozial sehr kompetent. Hier wird nicht abgestimmt, sondern wir finden einen Konsens. Wir streiten nicht, wir ringen“, sagt Valerie, und die anderen nicken.

Die Mischung aus öffentlich und privat zieht sich durch das ganze Gebäude und den Garten. Nur vier der 44 Wohnungen gehören zum CoHousing-Projekt, die restlichen sind „normal“. Der Garten und das angrenzende Spreeufer sind für die Öffentlichkeit zugänglich. Das Gelände hat keine Zäune. Jeder darf hier vorbeikommen, schauen und am Spreeufer sein Bier oder seinen Kaffee trinken. In den Erdgeschossen gibt es neben einer Werkstatt, einem Party- und Bewegungsraum auch eine öffentliche Kita, Büros und Ateliers. Das Spreefeld-Projekt will kein Biotop bleiben, es will sich mit der Stadt vernetzten.

„Sie denken, ich sei verrückt“

Angelika ist etwas jünger als Valerie, ebenfalls Single, und dazu alleinerziehend. Als Architektin hat sie sich beruflich viel mit gemeinschaftlichem Wohnen beschäftigt und wollte es schon lange ausprobieren. Auch, um sich selbst besser kennenzulernen. „Ich glaube nicht, dass Cluster-Wohnen einen sozialer macht. Aber der ständige Austausch spiegelt die eigene Persönlichkeit wider, und man kann sein Selbstbild klären“, sagt sie. Angelika sieht aber auch Nachteile dieser Lebensweise. „Die Kernfamilie muss zusammenhalten. Manchmal ist es schwer, diese von der weiteren Gemeinschaft zu trennen.“ Ihre Kinder finden Cluster-Wohnen „doof“. „Sie sagen, sie haben zu wenig Privatsphäre. Aber vielleicht liegt es auch am Alter“, sagt Angelika. Ihre Kinder sind 14 und 15 Jahre alt.

Doch nicht nur Singles finden Gefallen an den neuen WGs. Um den Esstisch toben zwei kleine Kinder, ein älteres verteilt Espressotassen, die mit selbst gemachter Crème brulée gefüllt sind, als Nachtisch. „Das sind alles meine“, sagt ein junger Mann im Kapuzenpulli und lacht. „Wir sind hier die Quotenfamilie.“ Martin und seine Frau Ellen sind vom gemeinschaftlichen Wohnen begeistert. „Früher musste ich jeden zweiten Tag einkaufen. Hier ist immer etwas im Kühlschrank. Man spart unglaublich viel Zeit und Energie“, sagt Martin. In dem Arsenal von Waschmaschinen im Erdgeschoss kann er drei Maschinen gleichzeitig laufen lassen. „Und wenn wir die Nase voll haben und nur eine kleine Familie sein wollen, machen wir die Tür zu.“ Martin muss sich oft gegen das Unverständnis seiner Freunde wehren. „Sie denken, ich sei verrückt, weil ich mit meiner Familie in einer WG lebe.“

Verlässt man das kleine Dorf an der Spree, so ist die Gemeinschaft noch an allen Ecken sichtbar. Im Erdgeschoss üben Bewohner Yoga, und es wird ein Geburtstag gefeiert. Nur in einigen Fenstern brennt kein Licht. Hier soll demnächst eine zweite Flüchtlingsfamilie einziehen. Ein Gemeinschaftsraum wurde bereits an eine ukrainische Familie vergeben. Beide sollen erst Miete zahlen, wenn sie eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Vielleicht macht das gemeinschaftliche Wohnen doch sozialer.

*Name geändert