Der indische Premierminister Modi hatte die Pandemie bereits für besiegt erklärt. Nun bleibt die Lage dramatisch. Ein deutscher Helfer berichtet, was er in der Hauptstadt Delhi erlebt.

Ich lebe seit fünfzehn Jahren in Südasien, die letzten fünf davon in Indien. Was hier gerade passiert, ist schlimmer als alles, was ich je erlebt habe. Das ist schrecklicher als die Folgen des Tsunamis oder der Bürgerkrieg in Sri Lanka, den ich auch aus der Nähe erlebt habe.

Die Menschen sterben, und ich fühle mich hilflos. Viele suchen in den sozialen Medien nach Sauerstoff, einem Krankenhausbett, Plasmaspenden oder Medikamenten. Andere bitten um eine warme Mahlzeit, weil sie der Lockdown zwingt, zu Hause zu bleiben.

Hier in Delhi, wo ich mit meiner Familie lebe, bilden sich lange Schlangen vor den Apotheken und vor den Krankenhäusern, die kaum noch jemanden aufnehmen. Der Staat hilft fast gar nicht. Die meisten Familien pflegen die Infizierten zu Hause. Private Initiativen verteilen Essen und Medikamente. In meiner Nachbarschaft kochen Familien für andere Haushalte. Hier in der Gegend gibt es private Firmen, die Kranke transportieren oder Sauerstoffflaschen verteilen. Mein Sohn hat Online-Unterricht. Die Lehrer fallen oft aus, weil sie sich um kranke Angehörige kümmern müssen.

Ich war im vergangenen Jahr sechs Monate in Deutschland. Als ich Anfang des Jahres wieder nach Indien kam, stellte ich schockiert fest, wie wenige Menschen im Vergleich zu 2020 noch Masken trugen. Restaurants, Friseure, Fitnessstudios und Kinos hatten geöffnet. 

Es gab riesige Veranstaltungen, weil in mehreren Staaten Indiens gerade Kommunalwahlen stattfinden. Bei religiösen Festen feierten über eine Millionen Menschen gemeinsam, ohne Masken. Obwohl bekannt war, dass sich neue Mutationen verbreiteten. Der indische Premierminister Modi erklärte die Pandemie bereits für besiegt.

Bisher konzentrierte sich das Infektionsgeschehen in den Mega-Städten wie Mumbai und Delhi, aber jetzt hat es auch ländliche Regionen und Dörfer erreicht. Immer mehr Menschen sterben dort an dem Virus. Viele Dörfer lassen niemanden mehr rein, selbst zurückkehrende Einwohner nicht. Anzeige

Um die Essensversorgung zu sichern, arbeiten wir mit Bauern zusammen und bringen den Menschen bei, selbst Gemüse, Obst und Kräuter anzubauen, um eine ausgewogene Ernährung zu gewährleisten. Die Pandemie hat gezeigt, wie fragil Lieferketten sind. Jetzt hoffen wir, dass es dieses Jahr keine Dürre gibt oder eine Heuschreckenplage wie letztes Jahr. Das war eine riesige Katastrophe.

Die Flieger, die hier gerade aus der EU, auch aus Deutschland, landen, sind willkommen. Aber das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. In Indien leben fast 1,4 Milliarden Menschen. Die Hilfen aus dem Ausland gehen im Moment an die Krankenhäuser der Großstädte. Delhi hat sehr gute private Krankenhäuser. Aber die sind jetzt völlig überlastet. Auf dem Land gibt es kaum Kliniken, nur Gesundheitszentren, die schlecht versorgt sind. Jetzt sollen Schulen zu Quarantänezentren umgerüstet und Gesundheitspersonal geschult werden.

Man hatte Zeit, um sich auf die zweite Welle vorzubereiten. Alle wussten, dass sie kommt. Noch vor ein paar Tagen behauptete der Gesundheitsminister, dass die Krankenhäuser genug Sauerstoff hätten. Ich mache mir Sorgen, dass die Situation in Indien auf die Nachbarländer Nepal und Bangladesch überschwappt, das extrem dicht besiedelt ist. Viele Deutsche haben das Land verlassen. Aber es wird immer komplizierter, aus dem Land raus oder rein zu kommen. Meine Familie und ich wollen vorerst hierbleiben und helfen.

Philippe Dresruesse arbeitet für die Deutsche Welthungerhilfe in Indiens Hauptstadt Delhi. Aufgezeichnet von Christina zur Nedden.

Dieser Text erschien zuerst auf welt.de