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In Österreich sind Schulen noch nicht wieder im Regelbetrieb. Um das Distance-Learning zu erleichtern, haben Wiener Kaffeehäuser und Hotels die Aktion »Fliegende Lerncafés« gegründet – wie bei Starbucks, nur billiger.

Die Stille ist ungewohnt. Kein Ober eilt auf dem knirschenden Parkettboden durch den Raum, nimmt Bestellungen auf oder preist die Torte des Tages an. Niemand stellt seine Melange klappernd auf die Untertasse oder blättert in den ausgelegten Zeitungen. Anstatt der typischen Wiener Kaffeehausgeräusche ist nur das leise Surren der neuen Luftbefeuchter zu hören.

Ein paar Straßen weiter erledigen die Wiener ihre Einkäufe rund um den Naschmarkt. Seit dem 8. Februar sind die Geschäfte wieder geöffnet, die Gastronomie muss sich wohl noch bis Ostern gedulden. Trotzdem bieten fünf Traditionscafés seit Mitte Dezember nachmittags einen Zufluchtsort, damit Wienerinnen und Wiener während des Lockdowns den eigenen vier Wänden entkommen können. Erst durften nur Schüler und Studierende kommen, die beim Homeschooling nicht gegen die immer gleiche Wand starren wollten. Seit Kurzem sind alle Wiener für ein paar Stunden unter gotischen Gewölben und samtigem Mobiliar willkommen, um ein »Bildungserlebnis« zu haben – ohne Kaffee und Kuchen, dafür aber mit stabilem WLAN.

Savanka Schwarz sitzt allein an einem weißen Marmortisch, vor ihr der Laptop, eine Thermosflasche mit Tee und ein Zettel, der die Hygienevorschriften erläutert. Vor ein paar Wochen sah sie auf Instagram ein Foto von jemandem, der in einem Kaffeehaus saß, und wunderte sich. Auf Nachfrage erfuhr sie von den sogenannten »Fliegenden Lerncafés«. Seit drei Wochen kommt die 23-Jährige zweimal die Woche nachmittags ins 1899 eröffnete Café Museum und schreibt an ihrer Bachelorarbeit in Politikwissenschaften.

»Ich finde es angenehm, dass ich hier einen Raum nur zum Arbeiten habe. Ich gehe um 19 Uhr nach Hause und kann mich entspannen«, sagt Schwarz. Am Café Museum schätzt sie auch, dass Besucher hier keine Maske tragen müssen. Das liegt am großen Abstand zu anderen: Nur 15 Lernende dürfen sich gleichzeitig auf den 300 Quadratmetern Fläche aufhalten. »Ich war neulich in einem anderen Lerncafé, wo das nicht so war, und bin dann gegangen. Stundenlang mit Maske lernen ist schon anstrengend«, sagt Schwarz.

Am anderen Ende des Kaffeehauses sitzt eine deutsche Studentin auf der weinroten Plüschbank vor einem kleinen Gugelhupf, den alle Lernenden hier zur Begrüßung bekommen. »Den hebe ich mir für später auf«, sagt Monika Leichtling, die an der Uni Wien Soziologie studiert. Mit am Tisch sitzt ihr Mitbewohner, Martin Köhnken, der eigentlich in Bremen studiert, für seine Masterarbeit jedoch in Österreich forscht. »Ich komme fast jeden Tag hierher. Mir gefällt die Atmosphäre«, sagt er. »Fast wie früher in der Bibliothek«, ergänzt Leichtling. Seit März letzten Jahres war sie nicht mehr in der Universität und lernt online. Im Kaffeehaus fühlt sie sich produktiver. »Das Internet ist hier auch besser als zu Hause«.

Cafe Museum Wien – Monika Leichtling und Martin Koehnken. Foto: Christina Zur Nedden

Einen Platz im »Fliegenden Lerncafé« kann man über die Plattform »Book your Room« buchen. Das Start-up von drei jungen Wienern, die erst im vergangenen Jahr die Schule abgeschlossen haben, kooperiert mit der Bildungsdirektion und der Stadt Wien. Neben den Tischen in den fünf Kaffeehäusern können auf der Plattform auch zehn Hotelzimmer und acht Konferenzräume in drei verschiedenen Hotels der Stadt auf Zeit gebucht werden. Das Angebot nutzen – ähnlich wie in den Kaffeehäusern – gerne Studenten und Oberschüler. Seit sich wieder zwei Haushalte treffen dürfen, kommen auch Jugendliche mit ihren Nachhilfelehrern vorbei oder Lehrer, die sich auf den Unterricht vorbereiten, erzählt Martina Richard. Sie ist Direktorin des Aparthotel Adagio. Finanzielle Unterstützung für die Reinigung der sechs zur Buchung verfügbaren Zimmer ihres Hotels bekommt sie nicht. »Ich mache mit, weil mich die Dankbarkeit der Menschen rührt«, sagt sie.

Auch Irmgard Querfeld stellt auf eigene Kosten die Tische im Café Museum zur Verfügung. Werktags von 14 bis 16 Uhr und von 17 bis 19 Uhr. Die Geschäftsführerin des Kaffeehauses hörte im vergangenen Jahr von Schülern und Studenten, die Platz zum Lernen suchten, und meldete sich bei der Bildungsdirektion mit der Idee zum Lerncafé. »Wir haben Platz, WLAN und können alle Hygienevorschriften einhalten«. Bevor es losging, besorgte sie noch zwei große Luftfilter und Desinfektionsflaschen. Zwischen den beiden buchbaren Zeiträumen werden Tische und Türgriffe gereinigt und desinfiziert, nicht von einer Reinigungsfirma, sondern von den Mitarbeitern selbst.

»Meine Mitarbeiter sind in Kurzarbeit. Sie sind wahnsinnig froh, wenn sie ein bisschen was machen dürfen«, sagt Querfeld. Die Beschäftigung sei gut für den Zusammenhalt des Betriebs. Teilweise lernen die Mitarbeiter auch selbst im Kaffeehaus, sie genießen die Stille und die schöne Atmosphäre. »Es fällt allen die Decke auf den Kopf und oft können in einer Familie nicht alle gleichzeitig zu Hause lernen. Wir wollen Teil der Lösung sein«, sagt Querfeld. Natürlich hofft sie, dass sie mit dem Angebot auch neue Kunden erreicht. »Einige Schüler und Studenten waren vorher noch nie in einem traditionellen Kaffeehaus. Wenn sie hier während des Lockdowns lernen konnten, kommen sie vielleicht auch nach der Pandemie wieder«.

Irmgard Querfeld leitet das Café Museum. Foto: Christina Zur Nedden

Querfeld betreibt das Café Museum seit zehn Jahren. Elf Kaffeehäuser mit insgesamt 380 Mitarbeitern leitet ihre Familie, darunter auch das berühmte Café Landtmann. Gerne würde sie auch dort das Lerncafé anbieten, doch der Vermieter stellt sich quer. Er würde für das Angebot die volle Miete verlangen – obwohl Querfeld keinen Umsatz macht, sie stellt lediglich die Räumlichkeiten. Das kann die Familie nicht zahlen. Im November bekam sie noch einen Verlustersatz, in den folgenden Monaten nicht. Insgesamt geht es den Kaffeehäusern in Wien schlecht. Von den 2100 Betrieben werden 20 bis 30 Prozent die Pandemie nicht überleben, schätzt Kaffeehäuser-Obmann Wolfgang Binder. Sechs von zwölf Monaten sind sie schon geschlossen, bis April ändert sich daran voraussichtlich nichts.

Irmgard Querfeld ist rührig, sie hat diese Zeit genutzt, um neue Ideen auszuprobieren. So betrieb sie im Sommer zum Beispiel gemeinsam mit Foodtruck-Betreibern einen Biergarten, in dem auch Künstler auftraten, und startete einen Onlineshop für Mehlspeisen. Derzeit entwickelt die Familie mit ihrer Konditorei eine Torte für Menschen mit Schluckbeschwerden, die auch nach Deutschland geliefert werden soll. »Menschen mit Schlaganfällen haben zum Teil jahrelang keine gute Torte mehr gegessen, das wollen wir ändern«.

Im Café Museum beginnt gleich die zweite Schicht, viele bleiben jedoch den ganzen Nachmittag. Da das Angebot so gut ankommt, haben seit vergangener Woche auch die Volkshochschulen geöffnet. 96 weitere Räume können von allen lernenden Wienern und Wienerinnen genutzt werden, die zu Hause nicht genug Raum haben, um zum Beispiel eine Sprache zu lernen oder ein Instrument zu üben.

Irmgard Querfeld sitzt in der Bibliothek des Café Museum. Dort finden normalerweise Lesungen statt. Im großen Saal gibt es einen Büchertisch, auf dem ein Antiquariat günstig zu kaufende gebrauchte Bücher ausgelegt hat. Werke junger Künstler zieren das ganze Kaffeehaus. Auf der Terrasse wurde ein »Nachbarschaftsklavier« aufgestellt. »Das Kaffeehaus war schon immer ein Ort der Inspiration, des Lernens und des Arbeitens. Es ist schön, dass dies auch im Lockdown so bleibt«, sagt sie.