Die Familie von Evan Fowler lebt seit fünf Jahrzehnten in Hongkong. Vor zwei Jahren musste der Forscher vor dem Regime in Peking fliehen. Die aktuelle Lage hält er für bedrohlich und erklärt, was die Unterschiede zwischen Hongkongern und Festlandchinesen sind.

WELT: Sie mussten vor zwei Jahren aus  Hongkong in das Vereinigte Königreich fliehen. Wie geht es Ihrer Familie und Ihren Freunden zu Hause im Moment?

Evan Fowler: Sie sind verzweifelt. Alle, mit denen ich gesprochen habe, sind schockiert, ob sie nun politisch sind, an den Protesten teilgenommen haben oder nicht. Die Menschen erkennen nicht mehr das Hongkong, das sie einst kannten – es ist nicht mehr eine Stadt, die ihre Werte widerspiegelt. Sie fühlen sich nicht mehr sicher. 

Einige Menschen suchen nach Möglichkeiten auszuwandern, auch nach Großbritannien. Ob sie ausreisen wollen oder nicht, ist unklar, aber sie wollen die Option haben. Sie wollen sich nicht in einer Stadt gefangen fühlen, die sich nicht mehr sicher anfühlt.

WELT: Im vergangenen Jahr gingen Tausende von Hongkongern auf die Straße, um gegen den Vorschlag eines Auslieferungsgesetzes mit China zu protestieren, der schließlich zurückgezogen wurde. Inwiefern unterscheidet sich das nun von Chinas Volkskongress gebilligte Sicherheitsgesetz von diesem, und sind die Menschen mehr oder weniger besorgt darüber, wie es sich auf sie auswirken könnte?

Evan Fowler

Fowler: Durch ihren Widerstand gegen das Auslieferungsgesetz versuchten die Menschen, die Tür zu China geschlossen zu halten. Sie wollten die Unabhängigkeit ihres Rechtssystems bewahren im Einklang mit dem, was ihnen im 1997 verabschiedeten Grundgesetz versprochen worden war. Das neue Sicherheitsgesetz geht weit über die Auslieferung hinaus – es droht, Hongkong chinesisches Recht aufzuzwingen.

Die Tür ist nun im Wesentlichen aufgestoßen. Es bleibt zwar abzuwarten, wie die Gesetze in Hongkong in Kraft treten und durchgesetzt werden, aber es ist schwer vorstellbar, dass sie nicht gegen Rechte und Freiheiten verstoßen, die angeblich durch das Grundgesetz und die völkerrechtlichen Verpflichtungen Hongkongs garantiert sind.

WELT: Vertrauen die Menschen in Hongkong darauf, dass ihre Regierung sie schützt?

Fowler: Nicht mehr. Als die Menschen im vergangenen Jahr zu protestieren begannen, hofften sie, Druck auf eine Regierung ausüben zu können, die noch die Macht hat zu handeln. Es ist deutlich geworden, dass die Regierung Hongkongs wenig bis gar keine Autonomie mehr hat. Die Menschen wissen heute, dass sie nicht gegen eine Regierung in Hongkong, sondern gegen die Kommunistische Partei Chinas protestieren.

WELT: Sie stammen aus einer Hongkonger Familie in fünfter Generation mit chinesischen Wurzeln. Von 2007 bis 2015 haben Sie das Hongkong Identity Project geleitet. Sie wollten dabei unter anderem herausfinden, was die Hongkonger von den Festlandchinesen unterscheidet. Was unterscheidet sie denn?

Fowler: Wir haben Hunderte von Interviews mit Menschen geführt, um herauszufinden, was es für sie bedeutet, aus Hongkong zu stammen. Die häufigste Antwort, die wir vor allem von jungen und gebildeten Menschen erhielten, lautete, dass die Identität Hongkongs an die lokale Kultur, Essen und Sprache gebunden ist. 

Wichtig waren auch gemeinsame Werte: Gedanken- und Meinungsfreiheit, bürgerliche Freiheiten, eine freie Presse und Rechtsstaatlichkeit. Alle Menschen, mit denen wir sprachen, hatten enge familiäre Bindungen zu China.

Aber was die Menschen auf dem chinesischen Festland vorfanden, war nicht Vertrautheit, sondern vielmehr spürten sie den signifikanten Unterschied, der Hongkong zu etwas Besonderem macht. Eine Person sagte: „Wir spielen hier Mahjong und sie spielen Mahjong in China, aber in Hongkong beschweren sich alle alten Leute über die Regierung beim Spielen. Dort drüben sagt niemand etwas über die Regierung.“

WELT: Wie wird diese Identität gerade jetzt bedroht?

Fowler: Die Proteste haben die Identität Hongkongs gestärkt. Sie ist jetzt wichtiger denn je. Die Bedrohung dieser Identität und die Furcht vor einer „Festlandisierung“ Hongkongs waren 2010 zum ersten Mal zu spüren. 

Damals stellten wir in Interviews fest, dass sich die Sorgen der Menschen von sozioökonomischen Fragen wie Bildung, Karriere und Lebensbedingungen zu Identitätsfragen wandelten. Hochchinesisch ging im Stillen von einer geförderten Zweitsprache zur neuen „Muttersprache“ über.

Kantonesisch, die Sprache Hongkongs, wurde zunehmend nur noch als Dialekt bezeichnet. Erinnerungen wurden zunehmend infrage gestellt – die Leichen, an die sich Generationen von Familien erinnern, die während der Kulturrevolution an die Küste gespült wurden, hatten in der offiziellen Geschichte keinen Platz mehr. Die Menschen spürten, dass ihre Geschichte und Identität bedroht waren.

WELT: Sind ethnische Chinesen in Hongkong besonders im Visier der chinesischen Regierung?

Fowler: Ja. Ein Freund, ein bekannter chinesischer Politologe in Hongkong, sagte mir einmal, dass die Briten den Menschen in Hongkong zwar nicht aktiv geholfen, aber auch nicht gegen sie gearbeitet hätten. Sie ließen die Menschen in Ruhe. Peking fordert, unsere Geschichte neu zu schreiben und uns zu sagen, was für Chinesen wir sein sollen.

Auch ethnische Chinesen auf der ganzen Welt, die China infrage stellen, sowie Menschen, die sich für die Freiheit Hongkongs einsetzen, erhalten regelmäßig Drohungen. Diese Drohungen nehmen viele Formen an, die harmloseste sind Hackerangriffe und getippte, unsignierte Drohbriefe, die händisch an Familien ausgeliefert werden.

WELT: Auf welche andere Weise versucht China seine Darstellung in der Welt zu beeinflussen?

Fowler: Für das China von Xi Jinping ist die Kontrolle des Narrativs das Wichtigste. Während der Proteste sahen wir eine Ausweitung von Desinformationskampagnen. Den Protestierenden wurde vorgeworfen, vom Westen bezahlt zu werden. An der Oberfläche geht es nie um Zwang, sondern um die „Verbesserung“ der Situation Hongkongs. Der Vorschlag für ein Sicherheitsgesetz wurde als ein Mittel zur Verbesserung der Schwächen des Hongkonger Rechtssystems formuliert.

WELT: Meinen Sie, dass die EU und das Vereinigte Königreich genügend Unterstützung für Hongkong zum Ausdruck bringen?

Fowler: Ich habe mich gefreut, dass der britische Außenminister Dominic Raab zusammen mit den Außenministern Kanadas und Australiens eine Erklärung abgegeben hat. Das Vereinigte Königreich sollte jedoch aufgrund seiner geschichtlichen Verbindungen zu Hongkong die Führung einer koordinierten internationalen Reaktion übernehmen.

WELT: Warum sollte sich jeder dafür interessieren, was in Hongkong geschieht?

Fowler: Hongkong ist das neue West-Berlin. Es ist eine Stadt, die von einem totalitären Staat umgeben wird, aber selbst liberal und weltoffen ist. Eine Stadt, die die grundlegenden liberalen Werte teilt, aber von einem regionalen Hegemon bedroht ist. Hongkong ist auch für die chinesische Diaspora wichtig als alternative Interpretation dessen, was es bedeutet, Chinese zu sein. 

Erstaunlicherweise hat der britische Kolonialismus tatsächlich einen Zufluchtsort für die chinesische Identität geschaffen, der nicht an politische Überzeugungen gebunden ist. Er ist von der Politik losgelöst. Jeder entscheidet in Hongkong selbst, was es bedeutet, Chinese zu sein. Das ist etwas Besonderes, das gilt es zu bewahren.

Dieser Text erschien zuerst auf welt.de