Dieser Beitrag erschien zuerst auf taz.de

Erstmals gibt es einen nationalen Gedenktag zu Flucht und Vertreibung. Selbst manche Vertriebene halten das nicht für sinnvoll.

Tote Flüchtlinge im Meer, am Strand, vor dem Bundeskanzleramt. Die Nachrichten über die Geschichten der Menschen, die auf der Suche nach Schutz, Frieden und einem besseren Leben in Europa sterben, hören nicht auf. Mitten in Berlin haben erst in dieser Woche Polit-Aktivisten die Beerdigung einer ertrunkenen Syrerin auf einem Friedhof inszeniert. Am Sonntag wollen sie ein Massengrab vor dem Bundeskanzleramt ausheben.

In Deutschland wird nun erstmals ein nationaler „Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“ begangen. Das Datum, der 20. Juni, ist kein Zufall, sondern der Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen. Man wolle, findet das Bundesinnenministerium, „das Flüchtlingsgedenken um das Schicksal der Vertriebenen erweitern“.

Die Vertriebenen, das sind die Deutschen, die vor 70 Jahren nach Kriegsende aus den alten deutschen Gebieten in den Westen fliehen mussten. Am neuen Gedenktag wird laut Bundesregierung “insbesondere der deutschen Vertriebenen gedacht“ – insbesondere der deutschen Vertriebenen?

Ein Tag für die Mittäter?

Es gibt in Deutschland sechs nationale Gedenktage, der 20. Juni wird der siebte. Einer von ihnen ist ein Volkstrauertag für alle Opfer von Krieg und Gewalt. Seit 1996 gedenkt Deutschland gesondert am 27. Januar der Opfer des Nationalsozialismus, also der ermordeten Juden, Zwangsarbeiter, der verfolgten Homosexuellen, Sinti und Roma und anderer Menschen, die durch das Nazi-Regime entrechtet, verfolgt, gequält oder ermordet wurden.

Stehen diese beiden Gruppen überhaupt im Verhältnis? Brauchen und verdienen die deutschen Verfolgten ihren eigenen Tag?

Manche würden diese Frage klar verneinen. Sie würden argumentieren, dass diese Verfolgten Mittäter des NS-Regimes waren. Dass sie keine unschuldigen Opfer sind, sondern Befürworter der territorialen Machterweiterung, die erst zu den wirklichen Opfern dieses Krieges führte. Noch heute werden Besucher der Heimattage von Vertriebenenverbänden als „geschichtsrevisionistisch“ und „Ewiggestrige“ beschimpft. Doch so einseitig ist diese Frage nicht zu beantworten. Die deutschen Vertriebenen: Wer waren, wer sind diese Menschen?

Sie kamen auf unterschiedlichen Wegen

Rund 12 Millionen waren es bei Kriegsende. Sie lebten in den alten deutschen Ostgebieten und verloren alle ihre Heimat. 12 Millionen, das ist keine homogene Gruppe. Manche siedelten erst mit der Machtergreifung der Nazis in die früheren deutschen Gebiete aus, andere waren seit hunderten von Jahren in Ostpreußen, Schlesien und Pommern zu Hause. Sie kamen auf unterschiedliche Art in das Nachkriegsdeutschland.

Manche wurden noch vor Kriegsende von den Nazis evakuiert, andere flohen vor der Roten Armee, manche wurden gebeten zu gehen, andere wurden auf Befehl des neuen Staats, in dem sie plötzlich lebten, ermordet. Krieg ist immer Chaos, eine Schwarz-Weiß- Einteilung in Täter und Opfer unmöglich – damals wie heute.

In den vergangenen Jahren ist eine Gruppe der Vertriebenen noch stärker in den Fokus der Forschung gerückt, von denen sich selbst viele niemals als solche bezeichnen würden. taz-Redakteurin Anja Maier beleuchtetin der taz.am wochenende vom 20./21. Juni diesen Teil der deutschen Geschichte: den der Menschen, die nach ihrer Flucht ihr neues Zuhause in der DDR fanden und dort nicht als „Vertriebene“, sondern als „Umsiedler“ bezeichnet wurden.

„Relativ nüchtern ohne emotionale Komponente“

In der DDR gab es keine Vertriebenenorganisationen. Sie wurden für unnötig befunden. Die Aufnahme von Menschen aus früheren deutschen Gebieten wurde als freundliche deutsch-sowjetische Kooperation verstanden. „Der Begriff „Umsiedlung“ wurde in der DDR gebraucht, „Flucht und Vertreibung“ in der Bundesrepublik. Vertreibung sollte emotional das vermeintliche Unrecht zum Ausdruck bringen, Umsiedlung hingegen den Vorgang relativ nüchtern ohne emotionale Komponente beschreiben“, sagt der Historiker Stephan Scholz der taz.am wochenende.

Nach der Wiedervereinigung wurde die westdeutsche Perspektive fast vollständig als offizielle Wahrheit akzeptiert. Plötzlich hörte man in der DDR von „Vertriebenen“, sie waren laut Westdeutschland doppelte Opfer – von den Sowjets verjagt und dann auch noch zu Kommunisten gemacht.

Flucht und Verfolgung spielt sich immer auf zwei Ebenen ab: auf der gesellschaftlich-politischen und auf der persönlichen, emotionalen Ebene. Geschichten der Flucht, sei es nach dem Zweiten Weltkrieg oder später von der DDR in den Westen, gibt es in fast jeder deutschen Familie. Ob Täter oder Opfer, jedes Leid ist individuell erfahren worden. Jeder traumatische Verlust der Heimat, jede Entwurzelung hinterlässt eine offene Wunde, die bei den heute noch Überlebenden immer noch schmerzt und bei den Nachkommen nur langsam vernarbt.

„Ich fühle mich nicht als Opfer“

Anja Maier erzählt die sehr persönliche Geschichte ihres Vaters und seiner Brüder. Sie flohen 1945 aus dem Sudetenland in die DDR. Alle gingen unterschiedlich mit der Fluchterfahrung um. Zwei Brüder – darunter der Vater der Autorin, Wilfried Maier – landeten in der DDR, einer in der BRD. Einer empfand sein Schicksal als gerechte Strafe. Der andere durfte es als Vertriebenenvertreter zelebrieren. Der dritte nahm sich das Leben.

Wilfried Maier fühlt sich heute nicht mehr als Opfer. Seine Brüder, seine Eltern – das waren seiner Meinung nach Opfer von Flucht und Vertreibung. An dem Tag, als er mit seiner Familie in Loschowitz in den leergeschaufelten Kohlewagen stieg, der sie für immer aus ihrer alten Heimat wegbringen sollte, war er dreizehn Jahre alt. Er verlor alles. Trotzdem: „Wenn ich mein ganzes Leben zusammennehme, fühle ich mich nicht als Opfer“, sagt er.

Die Geschichte von Wilfried Maier und seinen Brüdern ist ein Beispiel für die Komplexität jeder Fluchtgeschichte und ihrer Aufarbeitung. Und in Deutschland ist es besonders kompliziert. „Die Deutschen tun sich schwer, ihrer eigenen Opfer zu gedenken“, sagt Vertriebenen-Experte Scholz. „Trotz dieser Schwierigkeit ist es wichtig, sich weiterhin auf gesellschaftlicher Ebene, aber auch in der eigenen Familie mit der Geschichte der deutschen Vertriebenen zu beschäftigen.“

Kriegt bald jeder seinen eigenen Gedenktag?

Ein Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung könnte dabei helfen. Und auch die Aufmerksamkeit auf heutige Flüchtlinge und unsere Verantwortung ihnen gegenüber zu lenken. Diesen Samstag wird der Bundespräsident im Schlüterhof des Deutschen Museum eine Rede halten. Ein Flüchtling aus Nordafrika und eine ehemals Sudetendeutsche werden sprechen und am Ende wird das Lied der Deutschen erklingen. Am Anfang läuft die Titelmelodie von „Schindlers Liste“. Ob das nun alles zusammenpasst oder nicht.

Anja Maiers Vater wird am Samstag nicht dabei sein. Er hält den Tag für überflüssig. Auch an vielen anderen Deutschen wird der Moment unbemerkt vorüberziehen. Laut Vertriebenen-Experten Scholz ist der neue Gedenktag vor allem auf das jahrelange Drängen des Bundes der Vertriebenen zurückzuführen. Dem Verband sterben die Mitglieder weg, mit der Verstaatlichung des Gedenktags wird die Mission des Verbands vom Staat über sein Bestehen hinaus fortgeführt.

Hat diese erfolgreiche Lobbyarbeit zur Folge, dass bald auch andere Gruppen ihren eigenen Gedenktag haben? Wieso gibt es eigentlich einen Gedenktag für den militärischen Widerstand und nicht einen für Georg Elser oder für die Geschwister Scholl? Oder sollte man den 20. Juni eben einfach als Weltflüchtlingstag verstehen?

Halten Sie den neuen Gedenktag für sinnvoll?